10 Jahre, 10 Interviews: Dr. Julia Girardi-Hoog
Die Smart Klima City Strategie Wien feiert 2024 ihren 10. Geburtstag! Doch was braucht es, damit eine Strategie Fuß fassen kann? Wie entsteht eine Strategie und wer schreibt sie? Was steckt hinter dem Begriff Smart City und wieso brauchen wir diese Strategie heute mehr denn je?
Wir nehmen das Jubiläum zum Anlass und blicken in unserer Reihe „10 Jahre, 10 Interviews“ auf die Anfänge und den Werdegang der Strategie – und natürlich in die Zukunft. Hier spricht Dr. Julia Girardi-Hoog über Ihren Bezug zur Smart Klima City Strategie Wien. Nach längerer Tätigkeit bei der Wiener Wohnen ist die Architektursoziologin seit 2023 Beauftragte für Gender Planning in der Stadtbaudirektion Wien.
1. Rückblick und Meilensteine
Was waren die bedeutendsten Erfolge und Meilensteine der Smart City Initiative in den letzten 10 Jahren?
Die Wiener Interpretation einer Smart City war bahnbrechend, da sie den Menschen ins Zentrum der Planung stellte, anstatt Technologie um ihrer selbst willen zu verfolgen. Diese Herangehensweise war in vielen EU-Ländern völlig neu und bot eine alternative Sichtweise auf das Konzept der Smart City.
Im Rahmen der Ausschreibung für ein Horizon 2020 Projekt integrierten wir einen Partizipationsfokus, der ursprünglich nicht in den Vorgaben vorgesehen war. Diese Entscheidung erwies sich als überaus erfolgreich: Wir gewannen die Ausschreibung und konnten das Projekt „Smarter Together“ in Simmering umsetzen. Neben den Themen E-Mobilität und technologischen Innovationen planten wir gezielt ein Budget für partizipative Formate ein, um den Dialog mit den Bürger*innen zu fördern.
Besonders erfreulich ist, dass die nachfolgenden Ausschreibungen unserem Beispiel gefolgt sind und seither einen größeren Schwerpunkt auf Partizipation legen. Dies zeigt, dass der Ansatz, die Bevölkerung aktiv in den Entwicklungsprozess einzubeziehen, zunehmend Anerkennung findet.
2. Inspirierende Projekte
Gibt es ein Projekt aus den letzten Jahren, dass Sie besonders begleitet, inspiriert oder beeindruckt hat? Warum?
Ein inspirierendes Projekt der letzten Jahre war für mich das Mobilitätsprojekt „Beat the Street“ im Rahmen des Forschungsprojekts „Smarter Together“ in Wien-Simmering. Hier wurden Sensorboxen in Parks und Schulen installiert, die durch ein Punktesammelsystem und einen Wettbewerb dazu motivierten, zu Fuß unterwegs zu sein. Teilnehmerinnen konnten an den Sensoren Punkte sammeln, was in kürzester Zeit Schülerinnen, Familien und letztlich fast ganz Simmering mobilisierte. In nur sechs Wochen wurden insgesamt rund 80.000 Kilometer „erlaufen“ – einmal um die Welt! Das Projekt förderte nicht nur die Bewegung, sondern auch das Umweltbewusstsein und die Nutzung des öffentlichen Raums.
Eine Sonderschule verlagerte alle Turnstunden ins Freie und gewann 500 Euro Preisgeld. Die Freude bei den Schülerinnen und der Schulleitung war enorm groß. Der Erfolg war so durchschlagend, dass diese Initiative auch in München umgesetzt wurde.
Besonders schön an diesem Projekt ist, dass durch Gamification und ein interaktives, digitales Konzept so viele Menschen aus dem Alltag abgeholt und für eine nachhaltige Mobilität begeistert werden konnten.
3. Technologische Fortschritte
Wie haben technologische Innovationen die Entwicklung und Umsetzung der Smart City Strategie beeinflusst? Wie werden sie es in Zukunft tun?
Ein gutes Beispiel dafür ist die Open Government Data (OGD) Plattform, die den Zugang zu öffentlichen Daten ermöglicht und damit eine Grundlage für vielfältige, nützliche Anwendungen schafft. Die OGD-Plattform stellt eine große Menge an Daten kostenlos zur Verfügung, die Entwickler*innen nutzen, um innovative und alltagstaugliche Apps zu entwickeln.
Schon heute gibt es tolle Beispiele, wie diese Daten zur Erleichterung des städtischen Lebens beitragen, und in Zukunft ist hier noch viel Potenzial vorhanden. Neue Anwendungen, die auf solchen offenen Daten basieren, werden uns helfen, städtische Herausforderungen effizienter anzugehen und die Lebensqualität in der Stadt weiter zu verbessern. Ich bin überzeugt, dass wir in den kommenden Jahren viele spannende und hilfreiche Lösungen erleben werden, die aus dieser offenen Datenkultur hervorgehen.
4. Bürger*innenbeteiligung
Inwiefern konnten die Bürger*innen in den letzten zehn Jahren in die Gestaltung der Smart Klima City Wien einbezogen werden?
In den letzten zehn Jahren haben wir viele wertvolle Erkenntnisse zur Bürger*innenbeteiligung gesammelt. Ein zentrales Learning aus dem „Smarter Together“-Projekt in Simmering war: Man muss da sein, wo die Menschen im Alltag sind – auf Straßen, Plätzen und in Parks. Angebote, die Menschen auffordern, zu einem bestimmten Ort zu kommen, werden oft nicht wahrgenommen. Deshalb haben wir das „SIMmobil“ ins Leben gerufen – ein mobiles Beteiligungsangebot, das sechs Wochen lang zu verschiedenen Tageszeiten und an unterschiedlichen Standorten vor Ort war. So konnten wir sicherstellen, dass wir wirklich alle Bewohner*innen erreichen.
Durch einfache und niederschwellige Aktionen, wie Töpfe bemalen, wurden Kinder angesprochen – und mit ihnen kamen die Eltern und die gesamte Familie. In entspannter Atmosphäre entstanden so Gespräche, und die Möglichkeit, Anliegen und Informationen in besonders einfacher Sprache zu vermitteln. Kinder erweisen sich dabei als großartige Multiplikatoren.
Dieser Ansatz wird mittlerweile in Wien vielfach eingesetzt – sei es bei Schul-, Platz-, Park- oder Straßengestaltungen. Die Bürger*innenbeteiligung hat in der Stadtplanung einen immer höheren Stellenwert. Besonders die Gebietsbetreuungsteams leisten hier in den Stadtteilen wertvolle Arbeit und unterstützen die partizipative Gestaltung der Stadt aktiv.
5. Herausforderungen und Lösungen
Welche großen Herausforderungen mussten Sie auf dem Weg zur Smart Klima City überwinden und wie wurden bzw. werden diese gemeistert?
Der wohl größte aktuelle Zielkonflikt liegt im Spannungsfeld zwischen Klimaschutz und Klimawandelanpassung – insbesondere angesichts der sogenannten heat inequality. Gerade armutsbetroffene und vulnerable Gruppen leiden am stärksten unter den immer häufiger auftretenden extremen Hitzewellen. Sie suchen in ihrer Not oft eine kurzfristige Lösung durch den Kauf von Klimageräten. Diese erzeugen jedoch Abwärme, verursachen Lärm und belasten das Umfeld. Die Herausforderung ist hier, Lösungen zu schaffen, die möglichst rasch Abhilfe bieten, ohne die Umwelt zusätzlich zu belasten.
Ein weiteres Problem besteht in den schlecht gedämmten Wohnungen, in denen besonders viele von Hitze betroffene Menschen leben. Wiener Wohnen verwaltet rund 220.000 Wohnungen, die nicht einfach und schnell modernisiert werden können. Selbst wenn Maßnahmen wie außenliegende Verschattung gefördert werden, bleibt der hohe Investitionsaufwand für viele Menschen unerschwinglich – besonders, wenn es am Monatsende oft nur noch um das Nötigste wie Essen oder Miete geht. So müssen hier tragfähige Lösungen entwickelt werden, die rasch und effektiv die Lebensqualität der Menschen verbessern.
Die steigende Übersterblichkeit in den Sommermonaten zeigt, wie dringend wirksame Maßnahmen gebraucht werden. Ziel muss es sein, nachhaltige und schnell umsetzbare Strategien zu finden, die die Hitzebelastung in der Stadt reduzieren und insbesondere vulnerablen Gruppen helfen.
6. Soziale Aspekte
Wie berücksichtigt die Smart Klima City Strategie die sozialen Bedürfnisse und die Lebensqualität der Wiener Bevölkerung?
Ein einzigartiges Merkmal der Smart Klima City Strategie Wien ist, dass der Mensch stets im Mittelpunkt steht. Der Fokus liegt nicht nur auf technologischen Innovationen, sondern ebenso auf analogen Maßnahmen, die eine spürbare Verbesserung der Lebensqualität ermöglichen. Das Ziel ist es, das wohnungsnahe Umfeld so zu gestalten, dass es den Alltag für alle Bewohner*innen lebenswerter macht.
Superblocks oder Supergrätzl, die auf eine zentrale Organisation von Lebensräumen setzen, fördern eine aktive Mobilität und schaffen eine einzigartige Lebensqualität. Besonders wertvoll sind die wohnungsnahen Erholungsgebiete wie die „Beserlparks“ – grüne Naherholungsflächen, die wie ein erweitertes Wohnzimmer genutzt werden können. Auch Spielplätze, Parks und Freibäder spielen hier eine wesentliche Rolle. Sie tragen zur Zufriedenheit der Menschen bei und bieten Freiraum für Freizeitaktivitäten in direkter Nähe zu den Wohngebieten. Diese Maßnahmen stärken das soziale Miteinander und sind in ihrer Wirkung auf das Wohlbefinden und die Gesundheit der Bevölkerung schlichtweg unbezahlbar.
7. Visionäre Zukunftsbilder
Wenn Sie einen Tag in der Smart Klima City Wien im Jahr 2034 erleben könnten, wie würde dieser Tag aussehen?
Ein Sommertag im Jahr 2034 in der Smart City Klima Wien beginnt auf einem üppig begrünten Balkon, auf dem frische Erdbeeren das Frühstück versüßen. Die Kinder radeln danach sicher und unbeschwert zur Schule – durch Straßen, die von großen Bäumen gesäumt und angenehm kühl sind. Die Stadt hat sich so entwickelt, dass sich Radwege durch begrünte Alleewege schlängeln, Solarpaneele sorgen für angenehmen Schatten und leisten einen wertvollen Beitrag zur Energieversorgung.
Am Nachmittag bietet die Donauinsel eine willkommene Erfrischung, und abends lädt ein Sommerkino im Park zum gemeinsamen Filmschauen unter freiem Himmel ein. Öffentliche Räume sind schattig und kühl, wo das Zusammenspiel von Technik und Begrünung angenehme Rückzugsorte geschaffen hat. Begegnungsorte wie diese fördern das Miteinander, während ein kurzer Abstecher ins Grüne zum Blumen- und Beerenpflücken den Tag perfekt abrundet – ein Tag voller Lebensqualität, in einer Stadt, die aktiv und nachhaltig die Bedürfnisse aller Bewohner*innen erfüllt.
8. Nachhaltigkeitstrends
Gibt es einen aufkommenden Trend oder eine neue Technologie im Bereich Nachhaltigkeit, die Sie besonders begeistert und die Sie sich für Wien in der Zukunft wünschen?
Ein aufkommender Trend, der mich besonders begeistert und den ich mir für die Zukunft Wiens wünsche, ist die Förderung von Sport und Bewegung im öffentlichen Raum. Dabei geht es nicht nur um die Nutzung von Sportstätten, sondern auch um die Aktivierung großer, bislang ungenutzter Grünflächen.
Ich sehe ein großes Potenzial darin, wohnungsnahe Parks und Grünanlagen für gemeinschaftliche Sportaktivitäten zu nutzen, wie zum Beispiel Zumba oder Boxen. Selbstorganisierte Gruppen könnten hierbei eine zentrale Rolle spielen, indem sie eigenverantwortlich Sportangebote schaffen und anbieten.
Eine interessante Möglichkeit wäre die Integration von Apps, die das gemeinsame Sporteln und Turnen erleichtern. Diese könnten nicht nur helfen, Gleichgesinnte zu finden, sondern auch die Motivation steigern, regelmäßig aktiv zu werden.
Solche Initiativen tragen dazu bei, Einsamkeit zu bekämpfen und fördern gleichzeitig das Gemeinschaftsgefühl – schließlich ist es viel schöner, gemeinsam zu schwitzen und aktiv zu sein! Das könnte Wien zu einem lebendigen Ort machen, an dem Bewegung und soziale Interaktion Hand in Hand gehen.
9. Urban Legends
Welche urbane Legende über die Smart Klima City Wien würden Sie gerne entlarven oder bestätigen?
Eine verbreitete urbane Legende über die Smart Klima City Wien ist die Vorstellung, dass es dabei nur um eine von Technologie dominierte Stadt voller Sensoren und Roboter geht – ein Ort, an dem automatisierte Systeme das gesamte Stadtleben steuern und die Menschen kaum noch Einfluss auf ihr Umfeld haben. Diese Vorstellung ist allerdings weit von der Realität entfernt.
In Wahrheit steht in der Smart Klima City Wien der Mensch im Mittelpunkt. Es geht nicht nur um technische Lösungen, sondern um eine umfassende Lebensqualität, die auf analogen Maßnahmen, Nachhaltigkeit und einer umweltfreundlichen Gestaltung basiert. Grünflächen, wie Parks und „Supergrätzl“, bieten Erholungsraum und fördern die aktive Mobilität, indem sie zum Gehen und Radfahren einladen. Die Lebensqualität in der Smart Klima City Wien beruht auf einem Zusammenspiel von Natur und Mensch, nicht auf einer technikdominierten Zukunftsvision.
10. Die Stadt als Spielplatz
Wenn Sie eine ungenutzte städtische Fläche in Wien in einen unterhaltsamen Spielplatz für Erwachsene verwandeln könnten, was würde dort passieren?
Farben entfalten im öffentlichen Raum eine besondere Anziehungskraft auf Kinder – sie erkennen farbenfrohe Objekte intuitiv als Spielgeräte. Kinder scheinen regelrecht darauf „programmiert“ zu sein, auf bunten Strukturen zu klettern, zu krabbeln und zu rutschen, wie es die ENZIS im MuseumsQuartier eindrucksvoll zeigen. Diese spielerische Energie und die Freude an Bewegung sind genau das, was ein innovatives, lebendiges Stadtdesign fördern sollte.
Wien profitiert hierbei enorm von der kreativen „Schwarmintelligenz“ der vielen engagierten Planungsbüros, die Parks, Spiel- und Wasserspielplätze gestalten. Eine Stadt, die als großer, interaktiver Spielplatz für alle Generationen konzipiert ist, schafft Freiräume für Begegnung, Bewegung und Spaß. So wird Wien zu einem Ort, der Menschen jeden Alters einlädt, den öffentlichen Raum als erweitertes, lebendiges Spiel- und Erlebnisfeld zu entdecken und zu nutzen.
Danke für das Gespräch!
Dr. Julia Girardi-Hoog ist Architektursoziologin und seit letztem Jahr Beauftragte für Gender Planning in der Stadtbaudirektion Wien.